Metal Tango

Textauszug Nummer 1


Samstag, 11.15 Uhr

Die Körperfunktionen schienen kontinuierlich, aber sehr langsam, wieder einzusetzen. Seine Augenlider schafften es, sich um drei Millimeter zu öffnen, ehe das durchs Fenster gleißende Sonnenlicht seine Anstrengungen zunichte machte. Das nächste Sinnesorgan wurde gescannt. Da war etwas – etwas Elementares. Ja, er roch Kaffee, und darauf folgten erste Emotionen, die dieser in ihm auslöste. Er drehte sich zur Seite und begann nochmals mit Übung Nummer eins, dem Augenöffnen. Diesmal erkannte er erste Umrisse und nahm kurz darauf seine Umgebung auch visuell wahr – obwohl ihm nicht gefiel, was er da sah.

»Hoffentlich brennt sich dein Arsch nicht auf meiner Netzhaut ein. Das Bild ist zu schlimm für einen solchen Morgen.« Chris hatte die nächste Übung absolviert: Wiederfinden der Muttersprache und verbale Kommunikation. Er war auf dem richtigen Weg.

Ein Grunzen war von Jürgen zu vernehmen, der neben Chris auf dem Boden lag und sich in einem ähnlichen Zustand zu befinden schien. Allem Anschein nach absolvierte er aber gerade noch Übung eins.

Erinnerungen setzten ein und mussten verarbeitet werden – ein Prozess, der sich noch den ganzen Tag hinziehen konnte. Was war passiert? Wie und wann war er schlafen gegangen und hatte er es alleine hier hoch geschafft? Beim Versuch die letzten Stunden gedanklich wieder aufleben zu lassen, war beim Hoftor Endstation. Das Hoftor…Carrie…Tequila…Black out! Er wusste noch, dass Carrie ohne ihn zur Party zurück gegangen war und er sich noch ein oder zwei Gläser alleine gegönnt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war es gestern für ihn notwendig gewesen, die Erlebnisse kurz für sich aufzuarbeiten. Wahrscheinlich war er eingeschlafen - das musste es sein. Aber wer hatte ihn dann hier hochgebracht?

Wieder visuelle Eindrücke – diesmal wesentlich erfreulicherer Natur. Zwei nackte Damenbeine standen direkt an seinem Bett und bettelten förmlich um Beachtung. Auch der Geruch von gemahlenen Bohnen machte sich immer deutlicher bemerkbar. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand brachte ihm Kaffee ans Bett. Danke.

Aber Damenbeine? Er hatte doch nicht etwa…?

Konzentration, denn die nächste Übung verlangte nahezu Unmenschliches von ihm: Geöffnete Augen mit gleichzeitigem Anheben des Kopfes und zusätzlichem Einsatz verbaler Mittel.

Sein Blick wanderte von den nackten Fesseln, über die äußerst attraktiven Waden, den Knien und den Oberschenkeln zu einem kleinen und winzigen Nichts von Höschen. Dort musste er kurz verharren.

Eine Kaffeetasse, die kurz darauf sein Blickfeld kreuzte, hinderte ihn an weiteren Erforschungen.

»Hey, willkommen zurück.« Anitas rauchige Stimme ließ ihn hochschrecken und übergangslos die Kopfregion scannen.  

»Anita, guten Morgen. Schön dich zu sehen. Netter BH, den du da trägst.«

»Danke, gestern Nacht hat er dir nicht so gefallen. Du musst dringend mehr üben mit den Dingern.«

Jetzt war er wach, auch ohne einen Schluck Kaffee getrunken zu haben. Er setzte sich auf und begann sich zu räuspern.

»Äh, ja genau. Die sind schon recht trickreich. Aber ich hab's ja dann noch geschafft, richtig?« Sie lächelte ihn amüsiert an und setzte sich zu ihm an die Bettkante. Ihre Hand wanderte zu seiner Brust und sie spielte mit Daumen und Zeigefinger an seinen Brustwarzen.

»Aber du wirst dich doch noch erinnern, oder? Sag mir nicht, dass du unsere heiße Nummer vergessen hast.«

Jürgen hatte seine Körperfunktions-Überprüfung anscheinend schneller absolviert als Chris und schaffte es, binnen Sekunden aufzustehen und sich zu den beiden zu gesellen.

»Mach ihn nicht fertig. Der arme Kerl weiß doch nicht mehr wie er heißt«, meinte Jürgen und fasste Anita von hinten an ihre Brüste. Sie schmiegte sich genussvoll an ihn und drehte ihren Kopf seitlich nach hinten. Den innigen Kuss und das Spiel ihrer Zungen musste man gezwungenermaßen mit ansehen.

»Ey Leute, erst mich verarschen und dann noch vor mir rummachen? Es ist definitiv zu früh für beides. Ich hatte noch keinen Kaffee.« Chris mühte sich an den beiden halbnackten Turteltauben vorbei und ging mit seiner Tasse in Richtung Wohnungstür. Auf dem Weg dorthin machte er einen Abstecher zur Toilette, den er leider zwecks Überfüllung wieder abbrechen musste. Steffen und Heike hatten vermutlich ein kuschliges Fleckchen gesucht, aber nur sein Bad gefunden.

Er schlich die Treppe hinunter. Hoffentlich war Frau Schuhmacher noch in der Kirche oder beim Essen im Restaurant gegenüber der Kirche. Er mochte seine Vermieterin, aber ein Gespräch in diesem Zustand war momentan keine Option.

Die Sonne stand bereits sehr hoch am klarblauen Himmel. 25° Celsius dürften es mit Sicherheit sein und so stellte auch die Wahl, oder besser gesagt Nichtwahl seiner Kleidung aktuell kein Hindernis dar: Das Shirt von gestern Nacht und seine Boxershorts waren mehr als ausreichend für den Moment.

Er lief zur Bar und machte einen großen Schritt über Holger, der neben etwas lag, das fürchterlich säuerlich roch und entweder sein Erbrochenes war oder das von Tobias, der es sich neben ihm gemütlich gemacht hatte.

Die Sporturkunden hingen nicht mehr an der Wand. Dafür trugen sowohl Holger als auch Tobias jeweils eine davon, als Kopfschmuck, mit einem Netzstrumpfband an der Stirn. Die Verleihungstexte wurden leicht abgewandelt und blumiger umschrieben. Warum auf einer der Urkunden ein übergroßer Penis skizziert war, musste noch geklärt werden.

Chris stieg über das Stillleben hinweg und öffnete die Schublade hinter dem Bartresen. Ein Glück, sie hatten seine Zigaretten nicht gefunden.

Er trat wieder in den Hof hinaus und zündete sich eine Chesterfield an.

Jetzt erst einmal durchatmen, Kaffee trinken und den Tag starten.

Sein Blick wanderte über etwas, das einmal Frau Schuhmachers gepflegte kleine Hinterhofoase gewesen war und jetzt bei ihm eher eine Assoziation von New Yorker-Ghetto-Drogendealer-Hinterhof aufrief.

Unzählige Bierflaschen, volle wie leere, Schnapsgläser, verstreute Chips, überfüllte und teilweise über die Tische verteilte Aschenbecher, Essensreste, Käsekuchenreste, Käsekuchenstücke, Käsekuchen an der Hauswand klebend, Tabakbrösel, Marijuana, BHs und ein Dildo.

Er hatte scheinbar einiges verpasst.