Die Körperfunktionen schienen allmählich, wenn auch quälend langsam, wieder einzusetzen. Seine Augenlider schafften es, sich etwa drei Millimeter zu öffnen – ehe das durchs Fenster gleißende Sonnenlicht seine Anstrengung jäh zunichtemachte.
Das nächste Sinnesorgan wurde überprüft. Da war etwas – etwas Elementares. Kaffee. Ja, ganz eindeutig. Der Duft war unverkennbar. Und mit ihm kamen erste Emotionen: Hoffnung, Verlangen, ein leiser Anflug von Lebenswillen.
Er drehte sich auf die Seite und startete erneut mit Übung Nummer eins – Augenöffnen. Diesmal gelang es etwas besser: Erste Umrisse zeichneten sich ab, die Welt kehrte langsam zurück in seine Wahrnehmung.
Allerdings gefiel ihm nicht, was er da sah.
»Hoffentlich brennt sich dein Arsch nicht auf meiner Netzhaut ein«, krächzte er. »Das Bild ist zu schlimm für so einen Morgen.« Chris hatte die nächste Übung erfolgreich absolviert: Wiederherstellung der Muttersprache und halbwegs zusammenhängende verbale Kommunikation. Es ging bergauf.
Ein Grunzen kam von Jürgen, der neben ihm auf dem Boden lag – in ähnlichem Zustand, nur offenbar noch mit Übung eins beschäftigt.
Langsam schoben sich erste Erinnerungsfetzen in Chris’ Bewusstsein, wie Polaroids, die im Zeitlupentempo entwickelten. Ein Puzzle aus Bildern, Geräuschen, Geschmäckern – alles wirr, alles schräg. Wie war er hierhergekommen? Und vor allem: wann?
Das letzte, was er sicher wusste, war das Hoftor. Carrie. Tequila. Dann der Blackout.
Ja, sie war zurück zur Party gegangen. Und er? Er hatte sich noch ein, zwei Drinks gegönnt – ein Moment der Einkehr, wie er es sich gestern eingeredet hatte. Danach? Nichts. Nur der Filmriss.
Also war er wahrscheinlich einfach eingepennt, mit offenen Fragen und schwerem Kopf. Aber wer zum Teufel hatte ihn dann hier hochgeschleppt?
Wieder visuelle Eindrücke – diesmal deutlich erfreulicherer Natur. Zwei nackte Damenbeine standen direkt an seinem Bett und bettelten förmlich um Aufmerksamkeit. Auch der Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen breitete sich in seiner Wahrnehmung immer weiter aus – ein sicheres Zeichen: Jemand brachte ihm Kaffee ans Bett. Danke. Aber … Damenbeine? Hatte er etwa …?
Konzentration. Die nächste Übung verlangte fast Übermenschliches: Augen öffnen, Kopf heben und gleichzeitig ein paar Worte hervorbringen.
Sein Blick wanderte langsam von den schmalen Fesseln über wohlgeformte Waden, elegante Knie und verführerische Oberschenkel – bis hin zu einem winzigen Nichts von Höschen. Dort verweilte sein Blick für einen Moment, bevor eine Kaffeetasse sein Sichtfeld kreuzte und ihn abrupt aus dem Bann riss.
»Hey, willkommen zurück«, sagte eine rauchige Stimme.
Chris erschrak. Kopf scannen – Stimme identifizieren.
»Anita … guten Morgen. Schön, dich zu sehen. Netter BH übrigens.«
»Danke. Gestern Nacht fandest du ihn gar nicht so toll. Du solltest dringend üben, mit den Dingern umzugehen.«
Schlagartig war Chris wach – auch ohne einen Schluck Kaffee. Er setzte sich auf und räusperte sich verlegen. »Äh … ja. Die Dinger sind echt tricky. Aber ich hab’s ja am Ende noch geschafft, oder?«
Sie lächelte ihn schief an, setzte sich ans Bett, und ließ ihre Hand langsam über seine Brust wandern. Mit Daumen und Zeigefinger begann sie, verspielt an einer seiner Brustwarzen zu zupfen.
»Aber du erinnerst dich doch noch, oder? Sag jetzt nicht, du hast unsere heiße Nummer vergessen«, hauchte Anita mit einem schelmischen Funkeln in den Augen.
Chris öffnete den Mund, wollte etwas sagen – doch in diesem Moment meldete sich Jürgen zu Wort: »Mach ihn nicht fertig. Der arme Kerl weiß doch gar nicht mehr, wie er heißt.«
Chris wusste es für den Moment tatsächlich nicht, auch nicht, was ihn gerade mehr verunsichern sollte: die Frage, ob er nun etwas mit Anita gehabt hatte oder nicht, oder die Erkenntnis, dass sich Jürgen gerade fast mühelos vom Boden erheben konnte.
Wie um alles in der Welt hat er das geschafft?
Jürgen gesellte sich zu ihnen beiden, legte ohne zu zögern von hinten seine Hände um Anitas Brüste und verwirrte Chris damit nur noch mehr. Sie schmiegte sich genüsslich an ihn, drehte den Kopf nach hinten und ließ sich auf einen innigen Kuss ein – inklusive allem, was dazugehört.
Chris verdrehte die Augen und seufzte laut. »Ey Leute, erst verarscht ihr mich, und dann knutscht ihr mir auch noch vor der Nase rum? Es ist definitiv zu früh für beides. Ich hatte noch keinen Kaffee.«
Jetzt mühte er sich ebenfalls vom Boden hoch, nur fiel es ihm selbst wesentlich schwerer, als er es bei seinem besten Freund gerade eben noch beobachten konnte. Etwas wackelig auf den Beine zwängte er sich dann an den beiden halbnackten Turteltauben vorbei, die allem Anschein nach nicht vorhatten, ihre Zweisamkeit zugunsten von Schamgefühl zu unterbrechen. Chris schüttelte unverständig den Kopf und ging mit seiner dampfenden Tasse in Richtung Wohnungstür davon.
Kurz vor der Flucht ins Freie machte er einen Abstecher zur Toilette – musste jedoch unverrichteter Dinge wieder abdrehen. Die Tür war abgeschlossen, und aus dem Inneren war ein deutlich zweistimmiges Kichern zu hören. Steffen und Heike hatten offenbar ein kuscheliges Plätzchen gesucht – und leider nur sein Bad gefunden.
Also schlich er die Treppe hinunter. Hoffentlich war Frau Schuhmacher noch in der Kirche – oder beim Mittagessen im Restaurant gegenüber. Er mochte seine Vermieterin, wirklich, aber ein Gespräch in seinem aktuellen Zustand war schlicht keine Option.
Die Sonne stand bereits hoch am makellos blauen Himmel. 25 Grad waren es bestimmt, und so stellte die Wahl – oder besser gesagt: Nichtwahl – seiner Kleidung kein wirkliches Hindernis dar. Das Shirt von letzter Nacht und seine Boxershorts reichten fürs Erste vollkommen.
Er lief in Richtung Bar und machte einen großen Schritt über Holger, der neben einer verdächtigen Lache lag. Der säuerliche Geruch ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Entweder war es Holgers Erbrochenes oder das von Tobias, der es sich ebenfalls daneben gemütlich gemacht hatte.
Chris’ Blick fiel auf die Sporturkunden, die leider nicht mehr an ihrem vorgesehenen Platz an der Wand hingen. Stattdessen trugen sowohl Holger als auch Tobias jeweils eine davon als Kopfschmuck – mit einem Netzstrumpfband um die Stirn geschnallt. Die Texte der Auszeichnungen waren blumig überarbeitet worden. Warum auf einer der Urkunden ein überdimensionaler Penis skizziert war, würde später zu klären sein.
Chris stieg vorsichtig über das improvisierte Stillleben hinweg und öffnete die Schublade hinter dem Bartresen. Ein Glück – seine Zigaretten hatten sie nicht gefunden.
Er trat hinaus in den Hof, lehnte sich gegen die Mauer und zündete sich eine Chesterfield an.
Erst einmal durchatmen, Kaffee trinken und den Tag irgendwie starten.
Chris’ Blick wanderte weiter über das, was einst Frau Schuhmachers gepflegte Hinterhofoase gewesen war – und jetzt eher an einen New Yorker Drogendealer-Ghetto-Hinterhof erinnerte. Überall lagen Bierflaschen, teils leer, teils randvoll aber geöffnet. Warum auch immer. Schnapsgläser, verstreute Chips, überquellende Aschenbecher – verteilt auf sämtlichen Tischoberflächen und umliegenden Gartenmöbeln. Dazu Essensreste, Käsekuchenreste, Käsekuchenstücke. Käsekuchen an der Hauswand. Tabakbrösel, Marihuana, BHs. Ein Dildo.
Ich habe offenbar einiges verpasst!