Eines der Wahrzeichen von Baden-Baden ist das Kurhaus am Goetheplatz, am Rande einer wunderschön angelegten Parkanlage. Der klassizistische Stil dieses Prunkbaus mit den hohen weißen Säulen, erinnert im Entfernten an das „Weiße Haus“ in Washington, obgleich es nicht als Regierungs- sondern als Veranstaltungsgebäude dient. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Gebäude beheimatet zudem das berühmte Casino, in dem die Reichen und Schönen sich die Hand geben. Und von den Reichen und Schönen gibt es in Baden-Baden mehr als genug – mehr als in jeder anderen Stadt in Deutschland.
Dass ausgerechnet hier die Abschlussfeier eines Abiturjahrganges stattfindet, wundert hier demzufolge niemanden. Auch nicht, dass keine Eltern mit selbst gemachten Salaten, vollgeladenen Kuchentellern und Propangasflaschen herumirren und die Schulleitung löchern, wo sie aufbauen und was sie noch mit anpacken sollen. Keine frustrierten Elternvertreterinnen, die sich mit dem Hausmeister über vermeintlich existenzbedrohende Fragen der Schuhsohlenbeschaffenheit streiten. Keine Debatten über Alkohol in der Bowle oder wer die Musikanlage mitbringen wollte.
Nein, auf der Abiturfeier des hiesigen Gymnasiums trifft man sich in schmucker Abendgarderobe und schüttelt beim Gruß schwungvoll den Rolexarm. Man steht beim Champagnerempfang auf der Terrasse, bestaunt die Oldtimerparade und freut sich auf das abendliche Buffet vom prämierten Catering-Service.
Es gibt selbstverständlich eine Weinkarte.
Lou Michel und ihre Tochter Neska haben es nicht weit von ihrer Wohnung bis hierher. Dennoch hat Lou gern die fünfzehn Euro für das Taxi bezahlt. Neska ist wahrlich noch kein Profi darin, auf Zehn-Zentimeter-Absätzen den Anschein von Leichtigkeit zu erwecken. Man möchte ihr am liebsten unter die Arme greifen oder Wanderstöcke zuwerfen.
Es hat etwas von Robocop, als sie über die Waschbetonplatten auf die Treppe zustapft. Der gesamte Jahrgang versammelt sich dort gerade zum großen Foto. Ein bisschen verloren und unsicher wirkt Neska, sucht einen guten Platz und irrt von einer Seite zur anderen.
Lou ist aufgeregt, wie selten zuvor in ihrem Leben. Am liebsten möchte sie ihrer Tochter zurufen, wo sie sich hinstellen und wie genau sie sich in Pose bringen soll. Aber sie reißt sich zusammen, bleibt nach außen hin ruhig, wie Neska es ihr zuvor befohlen hatte.
Dann endlich scheinen die rund 40 Absolventen zufrieden mit ihren jeweiligen Positionen zu sein. Von einer Sekunde auf die andere ändert sich damit alles. Eben irrten auf dieser Treppe noch unbeholfene Kinder herum, die man in teure Kleider gestopft hat. Jetzt auf einmal strahlen junge Filmstars dem Fotografen entgegen, posen was das Zeug hält und tun alles was sie können, um auf Instagram großartig auszusehen.
Die neue Generation, die das Land in die Zukunft führen wird. Tatendrang, Wille, Hoffnung und unendlich viel Energie. Und Neska, nichts anderes denkt Lou in diesem Moment, sieht dabei aus wie eine Märchenprinzessin...